Warum UX-Designer keine „Anwälte der Nutzer“ sind

„Ich bin Anwalt der Nutzer!“ – das klingt heldenhaft, ist aber gefährlich. Wer sich zum Verteidiger erklärt, ignoriert echte Verantwortung: zuhören, testen, iterieren. Dieser Beitrag entlarvt das UX-Plädoyer als Selbstinszenierung – und zeigt, warum Nutzer:innen keine Anwälte brauchen, sondern Verbündete.

Darum geht’s in diesem Beitrag

Das gängige Narrativ: UX-Designer:innen als „Anwälte der Nutzer“ – klingt heroisch, ist aber irreführend.
Das Problem: Diese Metapher schiebt Verantwortung ab und isoliert UX vom Team.
Der Alltagseffekt: In Projekten wird UX zur Stellvertreterrolle, statt Teil der gemeinsamen Verantwortung.
Die Konsequenzen: Nutzerinteressen werden verzerrt, Teams verlieren Klarheit und echte Zusammenarbeit.
Die bessere Alternative: UX als Verbündete – zuhören, testen, Klarheit schaffen und Verantwortung teilen.

Ein False Friend lässt grüßen

Kennen Sie noch diese kleinen sprachlichen Stolperfallen aus dem Englischunterricht, die uns als ‚False Friends‘ das Leben schwer gemacht haben? Wörter, die aussehen wie alte Bekannte, aber uns gnadenlos reinlegen. Actual ist eben nicht ‚aktuell‘, blame hat nichts mit ‚blamieren‘ zu tun – und wer sensible mit ‚sensibel‘ übersetzt, blamiert sich gleich selbst.

So weit, so harmlos. Dumm nur, dass solche Missverständnisse inzwischen auch die UX-Welt infizieren: Denn bekanntermaßen herrscht in Deutschland ja die Überzeugung, UX sei eine amerikanische Erfindung – und deshalb wird alles, was aus den Staaten kommt, ungeprüft übernommen. „Proudly aprooved by Silicon Valley“ muss reichen!

Exponentiell gestiegen ist in den letzten Jahren die (schlechte) Angewohnheit, uns UX-Designer:innen als „Anwält:innen der Nutzer“ zu bezeichnen. Klar, dass dies vielen gefällt: Schließlich wird uns als „Anwält:innen“ eine gewisse Aura der Bedeutung zuteil – und dies ganz ohne Jurastudium, Staatsexamen und Rechtsreferendariat.

Approved by Google – aber nicht von mir

Ursprung der schrägen Übersetzung ist das in der englischsprachigen UX-Welt gebräuchliche User Advocate. Und wenn man die Google-KI fragt, was im Deutschen die beste Übersetzung für das englische User Advocate sei, kommt die Antwort prompt: „Nutzeranwalt (männlich) / Nutzeranwältin (weiblich): Dies ist eine sehr direkte und im Fachjargon übliche Übersetzung.“ Klingt korrekt, klingt offiziell – und deshalb wird es brav übernommen. Schließlich muss die Maschine es ja wissen, oder?

Nur: Genau hier liegt der Denkfehler. Eine KI liefert das, was statistisch plausibel klingt – nicht das, was sprachlich oder inhaltlich wirklich passt. KI hat eben kein feines Sprachgefühl, sondern verhält sich manchmal wie Google Translate im Anabolika-Rausch. Und wenn man ihr blind folgt, bekommt man am Ende Übersetzungen, die in der Praxis so viel Sinn ergeben wie ein WLAN-Kabel.

Und bevor jetzt alle aufschreien: Natürlich könnte man rein lexikalisch gesehen ‚Advocate‘ mit ‚Anwalt‘ übersetzen – auch wenn im Englischen dafür eher ‚Attorney‘ oder ‚Lawyer‘ üblich sind. Das eigentliche Problem liegt woanders: ‚Advocate‘ meint im Englischen vor allem ‚Fürsprecher‘ oder ‚Befürworter‘. Und genau das ist im Kontext von UX-Design gemeint, wenn von einem ‚User Advocate‘ die Rede ist – nicht der Robenträger im Gerichtssaal, sondern derjenige, der die Stimme der Nutzer hörbar macht.

Warum die Metapher des „Anwalts“ problematisch ist

Ein Anwalt oder eine Anwältin vertritt kompromisslos die Interessen der Mandant:innen – parteiisch, oft im Konflikt mit anderen Parteien. UX-Designer:innen arbeiten jedoch nicht in Gerichtssälen, sondern in Organisationen, in denen Nutzerinteressen mit Geschäftsinteressen, technischen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Fragen ausbalanciert werden müssen. Wer sich als „Anwalt“ versteht, läuft Gefahr, die Perspektive der Nutzer absolut zu setzen. Doch UX lebt von Abwägung und Vermittlung, nicht von einseitiger Parteinahme.

Die Folge: Teams glauben, UX-Designer:innen seien ausschließlich dafür da, „die Stimme der Nutzer“ zu vertreten. Das reduziert ihre Rolle auf Lobbyarbeit, statt ihre eigentliche Kompetenz sichtbar zu machen – nämlich Gestaltung, Analyse und Synthese.

Ein:e Anwält:in verteidigt eine einzelne Partei – parteiisch, bezahlt von Mandant:innen und notfalls gegen den Rest der Welt. UX-Designer:innen gestalten für Nutzersegmente – bezahlt vom Unternehmen, ohne Schuldfrage, und mit dem Ziel, Bedürfnisse, Business und Technik in eine funktionierende Lösung zu übersetzen.

Was UX-Designer wirklich tun

UX-Designer:innen sind keine Übersetzer mit Wörterbuch und auch keine Vermittler im Schlichtungsausschuss. Wir sind diejenigen, die aus den oft chaotischen Bedürfnissen der Nutzer:innen etwas Greifbares machen: eine Oberfläche, die funktioniert, ein Prozess, der nicht nervt, ein Erlebnis, das hängenbleibt. Wir balancieren zwischen den Zielen des Unternehmens und den Erwartungen der Menschen, die das Produkt benutzen – und genau darin liegt die eigentliche Kunst.

Wir bauen, wir testen, wir verwerfen, wir bauen neu. Wir sind nicht Anwälte, sondern Gestalter: Wir schaffen Beziehungen zwischen Mensch und Technologie, zwischen Nutzer:innen und Unternehmen, zwischen dem, was gewünscht ist, und dem, was machbar ist.

UX-Designer vs. Anwalt

Ein:e Anwält:in verteidigt eine einzelne Partei erfolgs- und mandatsgebunden – und zwar unabhängig davon, ob diese schuldig oder unschuldig ist. UX-Designer:innen dagegen arbeiten nicht für eine einzelne Person, sondern für die gesamte Nutzerbasis. Natürlich konzentrieren wir uns phasenweise auf bestimmte Gruppen oder Personas, um konkrete Bedürfnisse sichtbar zu machen. Aber unser Auftrag bleibt umfassend: Wir gestalten für alle Nutzer:innen – und zwar ohne Schuldfrage, ohne Mandat und ohne Bezahlung durch die Betroffenen. Die meisten unserer „Mandant:innen“ auf der anderen Seite des Bildschirms wissen gar nicht, dass wir existieren und konsequent ihre Interessen vertreten. Genau darin liegt die Ironie: Wir sind Fürsprecher:innen einer großen, oft unsichtbaren Mehrheit und arbeiten dabei selbst oft im Verborgenen.

Tabelle scrollbar

UX-Designer:innen

Anwält:innen

Vertreten alle Nutzer:innen

Arbeiten für einzelne Mandant:innen

Übersetzten Bedürfnisse in nutzbare, ästhetische und funktionale Lösungen

Übersetzten Interessen in juristische Argumente und Schriftsätze

Vermitteln zwischen Nutzerinteressen, Business-Zielen und technischen Rahmenbedingungen

Vertreten kompromisslos die Interessen von Mandant:innen gegen andere Parteien

Testen Hypothesen, sammeln Daten und gestalten iterativ

Nutzten Gesetze, Präzedenzfälle und juristische Verfahren

Schaffen Balance und Kompromisse zwischen verschiedenen Stakeholdern

Kämpfen für einseitige Durchsetzung der Rechte von Mandant:innen

Gestalten Erlebnisse und Beziehungen zwischen Mensch und Technologie

Verteidigen oder klagen im Gerichtssaal, um ein Urteil zu erwirken

Arbeiten kreativ, explorativ und nutzerzentriert

Arbeiteen formalistisch, regelgebunden und rechtszentriert

Tabelle scrollbar

Nutzer haben keine Schuld

Anwält:innen müssen sich mit der Schuldfrage auseinandersetzen – obwohl es für ihre Pflicht zur Verteidigung keine Rolle spielt, ob ihr:e Mandant:in unschuldig ist oder nicht. Und da liegt der wohl wichtigste Unterschied zwischen Nutzer:innen und Mandant:innen: Nutzer:innen tragen keine Schuld. Punkt. Sie sind keine Angeklagten und stehen auch nicht unter Verdacht. Im Gegensatz zur Anwalt-Mandanten-Beziehung darf hier also gar nicht erst der Eindruck entstehen, wir müssten als UX-Designer:innen ‚dumme‘ oder ‚unfähige‘ Nutzer:innen verteidigen.

Denn wenn etwas nicht funktioniert, liegt es schlicht daran, dass wir Designer:innen Mist gebaut haben oder – auch keine Seltenheit (!) – überhaupt nicht einbezogen wurden. Das Resultat: schlechte Gestaltung, unklare Kommunikation oder ein Produkt, das seine Versprechen nicht hält. Wir UX-Designer:innen arbeiten also in einem völlig anderen Kontext: Wir gestalten für Menschen, die schlicht ihre Ziele erreichen wollen. Anwält:innen müssen sich mit der Schuldfrage herumschlagen. Wir nicht! Bei uns liegt die Verantwortung allein in der Gestaltung.

Die bessere Metapher: Fürsprecher statt Anwalt

Ein:e Fürsprecher:in macht sich stark für eine Sache – ohne Robe, ohne Gerichtssaal und ohne den Anspruch, die Wahrheit gepachtet zu haben. Ein:e Fürsprecher:in bringt Argumente ein, sorgt dafür, dass Bedürfnisse nicht untergehen, und hält die Diskussion lebendig. Genau das tun UX-Designer:innen: Wir geben den Nutzer:innen eine Stimme, ohne sie absolut zu setzen. Wir balancieren zwischen Business, Technik und Realität. Kurz gesagt: Wir sind keine Anwält:innen, sondern die unbequemen Fürsprecher, die Kompromisse möglich machen – und Erlebnisse gestalten, die bleiben.

Warum die Klarstellung wichtig ist: Sprache formt Denken. Wer UX-Designer:innen als „Anwält:innen“ bezeichnet, verengt ihre Rolle und macht sie zu Kämpfer:innen in einem Stellvertreterkrieg. Wer sie als Fürsprecher:innen versteht, erkennt ihre eigentliche Stärke: Brücken bauen zwischen Nutzerbedürfnissen und Unternehmenszielen.

Diese Klarstellung ist kein akademisches Wortklauben, sondern entscheidend. Sie erspart Teams falsche Erwartungen, macht UX im Unternehmen sichtbar und verhindert, dass wir auf die Rolle von Lobbyisten reduziert werden. Wer uns als Anwält:innen bezeichnet, degradiert UX zu Stellvertreterpolitik. Wer uns als Fürsprecher:innen versteht, erkennt: Wir gestalten Wirkung!

Fazit: Nein, wir sind keine Anwälte

UX-Designer:innen sind keine Anwält:innen. Wir tragen keine Robe, wir tippen keine Schriftsätze, und wir kämpfen nicht für eine einzelne Partei. Wir sind Fürsprecher:innen, Vermittler:innen und Gestaltende. Wir bauen Brücken zwischen Nutzer:innen und Unternehmen, orchestrieren Bedürfnisse und Möglichkeiten – und schaffen Erlebnisse, die bleiben. Die Übersetzung von User Advocate als „Nutzeranwält:in“ ist nicht nur ein sprachlicher Irrtum, sondern ein gedanklicher Holzweg. Wer ihn hinter sich lässt, erkennt: UX-Design ist kein Gerichtssaal, sondern die Kunst, Wirkung zu schaffen.

Wer hat's geschrieben?

  • Christoph
    UX-Designer

    Christoph ist UX-Professional mit über 25 Jahren Erfahrung. Bei der Haufe Group verantwortet er mit seinen Kolleg:innen die UX der Cloud-Software Lexware Office. Praxisnah, direkt und nutzerzentriert hat er keine Geduld für Dogmen. In seinen Texten betont er: UX bedeutet Wirkung, nicht Selbstbespiegelung. Er kämpft für Klarheit, bricht Regeln, wenn sie hinderlich sind, und zeigt: Gute Produkte entstehen nicht durch Konsens, sondern durch mutige Entscheidungen.

2 Gedanken zu „<mark>Warum UX-Designer keine „Anwälte der Nutzer“ sind</mark>“

Schreibe einen Kommentar zu Christoph Antwort abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen