Ein False Friend lässt grüßen
Kennen Sie noch diese kleinen sprachlichen Stolperfallen aus dem Englischunterricht, die uns als ‚False Friends‘ das Leben schwer gemacht haben? Wörter, die aussehen wie alte Bekannte, aber uns gnadenlos reinlegen. Actual ist eben nicht ‚aktuell‘, blame hat nichts mit ‚blamieren‘ zu tun – und wer sensible mit ‚sensibel‘ übersetzt, blamiert sich gleich selbst.
So weit, so harmlos. Dumm nur, dass solche Missverständnisse inzwischen auch die UX-Welt infizieren: Denn bekanntermaßen herrscht in Deutschland ja die Überzeugung, UX sei eine amerikanische Erfindung – und deshalb wird alles, was aus den Staaten kommt, ungeprüft übernommen. „Proudly aprooved by Silicon Valley“ muss reichen!
Exponentiell gestiegen ist in den letzten Jahren die (schlechte) Angewohnheit, uns UX-Designer:innen als „Anwält:innen der Nutzer“ zu bezeichnen. Klar, dass dies vielen gefällt: Schließlich wird uns als „Anwält:innen“ eine gewisse Aura der Bedeutung zuteil – und dies ganz ohne Jurastudium, Staatsexamen und Rechtsreferendariat.
Approved by Google – aber nicht von mir
Ursprung der schrägen Übersetzung ist das in der englischsprachigen UX-Welt gebräuchliche User Advocate. Und wenn man die Google-KI fragt, was im Deutschen die beste Übersetzung für das englische User Advocate sei, kommt die Antwort prompt: „Nutzeranwalt (männlich) / Nutzeranwältin (weiblich): Dies ist eine sehr direkte und im Fachjargon übliche Übersetzung.“ Klingt korrekt, klingt offiziell – und deshalb wird es brav übernommen. Schließlich muss die Maschine es ja wissen, oder?
Nur: Genau hier liegt der Denkfehler. Eine KI liefert das, was statistisch plausibel klingt – nicht das, was sprachlich oder inhaltlich wirklich passt. KI hat eben kein feines Sprachgefühl, sondern verhält sich manchmal wie Google Translate im Anabolika-Rausch. Und wenn man ihr blind folgt, bekommt man am Ende Übersetzungen, die in der Praxis so viel Sinn ergeben wie ein WLAN-Kabel.
Und bevor jetzt alle aufschreien: Natürlich könnte man rein lexikalisch gesehen ‚Advocate‘ mit ‚Anwalt‘ übersetzen – auch wenn im Englischen dafür eher ‚Attorney‘ oder ‚Lawyer‘ üblich sind. Das eigentliche Problem liegt woanders: ‚Advocate‘ meint im Englischen vor allem ‚Fürsprecher‘ oder ‚Befürworter‘. Und genau das ist im Kontext von UX-Design gemeint, wenn von einem ‚User Advocate‘ die Rede ist – nicht der Robenträger im Gerichtssaal, sondern derjenige, der die Stimme der Nutzer hörbar macht.
Warum die Metapher des „Anwalts“ problematisch ist
Ein Anwalt oder eine Anwältin vertritt kompromisslos die Interessen der Mandant:innen – parteiisch, oft im Konflikt mit anderen Parteien. UX-Designer:innen arbeiten jedoch nicht in Gerichtssälen, sondern in Organisationen, in denen Nutzerinteressen mit Geschäftsinteressen, technischen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Fragen ausbalanciert werden müssen. Wer sich als „Anwalt“ versteht, läuft Gefahr, die Perspektive der Nutzer absolut zu setzen. Doch UX lebt von Abwägung und Vermittlung, nicht von einseitiger Parteinahme.
Die Folge: Teams glauben, UX-Designer:innen seien ausschließlich dafür da, „die Stimme der Nutzer“ zu vertreten. Das reduziert ihre Rolle auf Lobbyarbeit, statt ihre eigentliche Kompetenz sichtbar zu machen – nämlich Gestaltung, Analyse und Synthese.
Ein:e Anwält:in verteidigt eine einzelne Partei – parteiisch, bezahlt von Mandant:innen und notfalls gegen den Rest der Welt. UX-Designer:innen gestalten für Nutzersegmente – bezahlt vom Unternehmen, ohne Schuldfrage, und mit dem Ziel, Bedürfnisse, Business und Technik in eine funktionierende Lösung zu übersetzen.
Was UX-Designer wirklich tun
UX-Designer:innen sind keine Übersetzer mit Wörterbuch und auch keine Vermittler im Schlichtungsausschuss. Wir sind diejenigen, die aus den oft chaotischen Bedürfnissen der Nutzer:innen etwas Greifbares machen: eine Oberfläche, die funktioniert, ein Prozess, der nicht nervt, ein Erlebnis, das hängenbleibt. Wir balancieren zwischen den Zielen des Unternehmens und den Erwartungen der Menschen, die das Produkt benutzen – und genau darin liegt die eigentliche Kunst.
Wir bauen, wir testen, wir verwerfen, wir bauen neu. Wir sind nicht Anwälte, sondern Gestalter: Wir schaffen Beziehungen zwischen Mensch und Technologie, zwischen Nutzer:innen und Unternehmen, zwischen dem, was gewünscht ist, und dem, was machbar ist.
UX-Designer vs. Anwalt
Ein:e Anwält:in verteidigt eine einzelne Partei erfolgs- und mandatsgebunden – und zwar unabhängig davon, ob diese schuldig oder unschuldig ist. UX-Designer:innen dagegen arbeiten nicht für eine einzelne Person, sondern für die gesamte Nutzerbasis. Natürlich konzentrieren wir uns phasenweise auf bestimmte Gruppen oder Personas, um konkrete Bedürfnisse sichtbar zu machen. Aber unser Auftrag bleibt umfassend: Wir gestalten für alle Nutzer:innen – und zwar ohne Schuldfrage, ohne Mandat und ohne Bezahlung durch die Betroffenen. Die meisten unserer „Mandant:innen“ auf der anderen Seite des Bildschirms wissen gar nicht, dass wir existieren und konsequent ihre Interessen vertreten. Genau darin liegt die Ironie: Wir sind Fürsprecher:innen einer großen, oft unsichtbaren Mehrheit und arbeiten dabei selbst oft im Verborgenen.
UX-Designer:innen |
Anwält:innen |
Vertreten alle Nutzer:innen |
Arbeiten für einzelne Mandant:innen |
Übersetzten Bedürfnisse in nutzbare, ästhetische und funktionale Lösungen |
Übersetzten Interessen in juristische Argumente und Schriftsätze |
Vermitteln zwischen Nutzerinteressen, Business-Zielen und technischen Rahmenbedingungen |
Vertreten kompromisslos die Interessen von Mandant:innen gegen andere Parteien |
Testen Hypothesen, sammeln Daten und gestalten iterativ |
Nutzten Gesetze, Präzedenzfälle und juristische Verfahren |
Schaffen Balance und Kompromisse zwischen verschiedenen Stakeholdern |
Kämpfen für einseitige Durchsetzung der Rechte von Mandant:innen |
Gestalten Erlebnisse und Beziehungen zwischen Mensch und Technologie |
Verteidigen oder klagen im Gerichtssaal, um ein Urteil zu erwirken |
Arbeiten kreativ, explorativ und nutzerzentriert |
Arbeiteen formalistisch, regelgebunden und rechtszentriert |
Was ist das Ziel? Verbesserung der User Experience |
Was ist das Ziel? Rechtssicherheit und Mandantensieg |
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Nutzer haben keine Schuld
Anwält:innen müssen sich mit der Schuldfrage auseinandersetzen – obwohl es für ihre Pflicht zur Verteidigung keine Rolle spielt, ob ihr:e Mandant:in unschuldig ist oder nicht. Und da liegt der wohl wichtigste Unterschied zwischen Nutzer:innen und Mandant:innen: Nutzer:innen tragen keine Schuld. Punkt. Sie sind keine Angeklagten und stehen auch nicht unter Verdacht. Im Gegensatz zur Anwalt-Mandanten-Beziehung darf hier also gar nicht erst der Eindruck entstehen, wir müssten als UX-Designer:innen ‚dumme‘ oder ‚unfähige‘ Nutzer:innen verteidigen.
Denn wenn etwas nicht funktioniert, liegt es schlicht daran, dass wir Designer:innen Mist gebaut haben oder – auch keine Seltenheit (!) – überhaupt nicht einbezogen wurden. Das Resultat: schlechte Gestaltung, unklare Kommunikation oder ein Produkt, das seine Versprechen nicht hält. Wir UX-Designer:innen arbeiten also in einem völlig anderen Kontext: Wir gestalten für Menschen, die schlicht ihre Ziele erreichen wollen. Anwält:innen müssen sich mit der Schuldfrage herumschlagen. Wir nicht! Bei uns liegt die Verantwortung allein in der Gestaltung.
Die bessere Metapher: Fürsprecher statt Anwalt
Ein:e Fürsprecher:in macht sich stark für eine Sache – ohne Robe, ohne Gerichtssaal und ohne den Anspruch, die Wahrheit gepachtet zu haben. Ein:e Fürsprecher:in bringt Argumente ein, sorgt dafür, dass Bedürfnisse nicht untergehen, und hält die Diskussion lebendig. Genau das tun UX-Designer:innen: Wir geben den Nutzer:innen eine Stimme, ohne sie absolut zu setzen. Wir balancieren zwischen Business, Technik und Realität. Kurz gesagt: Wir sind keine Anwält:innen, sondern die unbequemen Fürsprecher, die Kompromisse möglich machen – und Erlebnisse gestalten, die bleiben.
Warum die Klarstellung wichtig ist: Sprache formt Denken. Wer UX-Designer:innen als „Anwält:innen“ bezeichnet, verengt ihre Rolle und macht sie zu Kämpfer:innen in einem Stellvertreterkrieg. Wer sie als Fürsprecher:innen versteht, erkennt ihre eigentliche Stärke: Brücken bauen zwischen Nutzerbedürfnissen und Unternehmenszielen.
Diese Klarstellung ist kein akademisches Wortklauben, sondern entscheidend. Sie erspart Teams falsche Erwartungen, macht UX im Unternehmen sichtbar und verhindert, dass wir auf die Rolle von Lobbyisten reduziert werden. Wer uns als Anwält:innen bezeichnet, degradiert UX zu Stellvertreterpolitik. Wer uns als Fürsprecher:innen versteht, erkennt: Wir gestalten Wirkung!
Fazit: Nein, wir sind keine Anwälte
UX-Designer:innen sind keine Anwält:innen. Wir tragen keine Robe, wir tippen keine Schriftsätze, und wir kämpfen nicht für eine einzelne Partei. Wir sind Fürsprecher:innen, Vermittler:innen und Gestaltende. Wir bauen Brücken zwischen Nutzer:innen und Unternehmen, orchestrieren Bedürfnisse und Möglichkeiten – und schaffen Erlebnisse, die bleiben. Die Übersetzung von User Advocate als „Nutzeranwält:in“ ist nicht nur ein sprachlicher Irrtum, sondern ein gedanklicher Holzweg. Wer ihn hinter sich lässt, erkennt: UX-Design ist kein Gerichtssaal, sondern die Kunst, Wirkung zu schaffen.



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