UX-Designer, runter vom hohen Ross!

UX ist kein akademisches Schaulaufen, sondern solides Handwerk. Wer mit großem Jargon und Pathos auftritt, liefert meist wenig Substanz. Echte UX entsteht im Detail – pragmatisch, präzise und manchmal schmutzig, aber immer ehrlich.

Darum geht’s in diesem Beitrag

Inszenierte Höhepunkte: Von „User Journeys als Offenbarung“ bis „Flowcharts als Transformation“.
Was dahinter steckt: Warum große Shows oft wenig Substanz haben und UX-Arbeit entwerten.
Wo das auffällt: Konferenzen, Projektdruck, Präsentationen vor Stakeholder:innen.
Die Konsequenzen: Wenn Designer:innen sich von Pathos und Hochglanz blenden lassen.
Mein Plädoyer: UX als ehrliches Handwerk positionieren – pragmatisch, präzise und nah an den Nutzer:innen.

UX ist Handwerk, keine Show

Für mich fühlt sich UX manchmal wie Theater an: Wenn UX-Designer:innen sich als intellektuelle Elite inszenieren – mit ganz viel Pathos und pseudo-wissenschaftlichem Jargon, dann hat das fast schon satirische Züge. Da werden mit großen Gesten große Worte geschwungen, als würde man mit jedem Wireframe die Welt neu vermessen – und am Ende geht es lediglich um die Position eines Buttons. Ganz ehrlich: Wer das Handwerk beherrscht, braucht keine göttliche Aura, sondern Präzision und Pragmatismus.

Kein Hochglanz: Gute UXler gehen dahin, wo’s schmutzig wird

UX ist kein poliertes Prestigeprojekt, sondern Arbeit im Detail. Wer gute Interfaces baut, muss dahin gehen, wo es unbequem wird: zu den echten Nutzer:innen, in die unaufgeräumten Prozesse, in die kleinen Stolperfallen, die niemand in der Hochglanz-Präsentation zeigen will. Genau dort entscheidet sich, ob ein Produkt funktioniert – oder nur so tut als ob.

UX ohne Hochglanz

Gute UX entsteht dort, wo man beobachtet, iteriert, testet und aus Erfahrung lernt – pragmatisch, präzise und ehrlich.

UX lebt von Beobachtung, nicht von Buzzwords

Buzzwords sind schnell gesagt, aber sie lösen keine Probleme. Wer wirklich verstehen will, wie Menschen mit einem Produkt umgehen, muss hinschauen: Wo stockt der Blick? Wo zögert die Hand? Wo klickt jemand falsch? Diese Beobachtungen sind oft banal, manchmal schmutzig, aber immer ehrlich. Sie sind das Fundament guter UX – nicht die Schlagworte auf irgendwelchen Folien.

UX entsteht durch Iteration, nicht durch Ideologie

Gute Interfaces sind nicht das Ergebnis einer einmaligen Eingebung, sondern von Ausprobieren, Verwerfen, Verbessern. Iteration heißt: Fehler zulassen, Schlaufen drehen, sich durch den Staub der Details arbeiten. Ideologie dagegen ist bequem – sie liefert große Worte, aber keine funktionierenden Lösungen. Wer iteriert, macht sich die Hände schmutzig. Wer ideologisiert, bleibt sauber – und wirkungslos.

UX funktioniert, wenn man testet – nicht wenn man doziert

Nutzer:innen überzeugen keine Vorträge, sondern Prototypen, die sie selbst in die Hand nehmen können. Testen ist gnadenlos ehrlich: Es zeigt sofort, ob etwas funktioniert oder nicht. Dozieren dagegen ist Hochglanz – es klingt klug, ohne Beweis. Gute UXler wissen: Man muss raus aus dem Meetingraum, rein in die Realität. Dort, wo’s schmutzig wird, zeigt sich, ob ein Interface hält.

UX lebt von Erfahrung – nicht von akademischem Dünkel

Wer seit Jahrzehnten in diesem Bereich arbeitet, bringt einen Erfahrungsschatz mit, der kein Workshop und kein Framework ersetzen kann. Wie ein guter Handwerker weiß man irgendwann aus der Praxis, wo die typischen Fallen liegen, welche Muster funktionieren und welche garantiert scheitern. Diese Erfahrung erlaubt es, viele Probleme direkt zu erkennen, ohne jedes Detail erneut durch aufwendige Tests zu schleifen. Erfahrung ist kein Ersatz für Beobachtung oder Iteration – sie ist das Fundament, das beides schneller und treffsicherer macht.

Großes Theater, wenig Substanz

Besonders skeptisch werde ich immer, sobald UX-Designer das ganz große Besteck auspacken. Denn die Erfahrung zeigt: Je größer die Show, umso weniger Substanz steckt dahinter. „User Journeys“ werden dann wie spirituelle Erweckungserlebnisse verkauft, Interviews mit drei Testpersonen mutieren zur „Feldforschung“, und wer einmal ein Flowchart gemalt hat, spricht plötzlich von „Menschenzentrierter Transformation“. Das ist kein UX, das ist Selbstverliebtheit mit PowerPoint. Wer so auftritt, verkauft Inszenierung, nicht Erkenntnis. Und genau darin liegt das Problem: Hochglanz ersetzt Handwerk, Pose ersetzt Beobachtung, und am Ende bleibt ein glänzendes Deckblatt ohne Substanz. Theater statt Praxis. Diese Wichtigtuerei schadet mit realen Folgen:

  • Designer verlieren Glaubwürdigkeit, weil sie sich selbst wichtiger nehmen als die Aufgabe.
  • Teams verlieren Zeit, weil Diskussionen über Begriffe wichtiger werden als Ergebnisse.
  • Produkte verlieren Fokus, weil die Show im Meeting wichtiger ist als der Test mit echten Nutzer:innen.

Titel ohne Substanz

Besonders wichtig: Jeder darf sich „UX-Designer:in“ nennen. Es ist kein geschützter Beruf, keine vorgeschriebene Ausbildung. Man kann sich den Titel selbst auf die Visitenkarte drucken, ohne jemals ein einziges Kunden-Interview gemacht oder einen Prototypen getestet zu haben. Die Berufbezeichnung „UX-Designer:in“ alleine ist ungefähr so glaubwürdig wie „Chief Sandwich Experience Officer“.

Gleichzeitig hat dies auch einen großen Vorteil: Man braucht keine zehn Jahre Studium, um eine Navigation zu bauen. Man muss keine „Empathie-Methodik“ erfinden, um herauszufinden, dass Nutzer:innen Klarheit mögen. UX ist kein akademisches Hochamt, sondern schlicht die Kunst, Dinge benutzbar zu machen. Und das kann jeder lernen.

Ich bin das beste Gegenbeispiel

Wenn das jemand beweisen kann, dann ich: Ich habe Anfang der 1990er als Jugendlicher angefangen, Webseiten zu bauen – mit HTML, Tabellenlayouts und blinkenden GIFs –, lange bevor sich das Berufsbild „UX-Designer:in“ etabliert hatte. Nach Abitur und Zivildienst folgten eine abgebrochene Ausbildung als Mediengestalter, diverse Agentur-Jobs, eine freiberufliche Tätigkeit, nebenbei ein Studium der Nahostwissenschaften (mit null Bezug zu meinem Beruf) sowie ein Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaften, das mich in der Praxis überhaupt nicht weitergebracht hat.

Und ja, ich habe sogar ein sogenanntes „UX-Bootcamp“ absolviert. Das war lustig, es gab jede Menge Post-its, Double Diamonds und „Empathie-Übungen“. Aber neue Erkenntnisse? Fehlanzeige! Für jemanden, der seit den 90ern durchgehend digitale Erlebnisse baut, war das eher Buzzword-Bingo als eine Offenbarung.

Mein Werdegang ist alles andere als geradlinig, aber er zeigt: Erfahrung schlägt Zertifikat. Für gute UX braucht man keine Titel, keine Zertifikate und keine akademischen Hochglanzfassaden. Aber ich habe mein Fach von der Pieke auf gelernt: im Quellcode, in Projekten, im Austausch mit Kund:innen und im direkten Kontakt mit Nutzer:innen. Und genau deshalb weiß ich: UX ist Handwerk. Solide, manchmal schmutzig, aber immer ehrlich.

Fazit: Weniger Ego, mehr Ergebnis

UX-Designerinnen sind keine Gurus, keine Philosophinnen, keine Wissenschaftlerinnen. Sie sind Handwerkerinnen. Gute UX entsteht nicht durch Pathos, sondern durch Pragmatismus. Wer das nicht akzeptiert, produziert mehr heiße Luft als nutzbare Interfaces – und sollte dringend die Bühne räumen, bevor die Nutzer kollektiv einschlafen. Und abgesehen davon: Die besten Interfaces sind die, die gar nicht auffallen. Kein Nutzer denkt: „Wow, diese Journey war aber akademisch durchdacht.“ Sie denken: „Ah, das funktioniert.“ Punkt. Ironischerweise ist UX also gerade dann am besten, wenn niemand darüber spricht.

Wer hat's geschrieben?

  • Christoph
    UX-Designer

    Christoph ist UX-Professional mit über 25 Jahren Erfahrung. Bei der Haufe Group verantwortet er mit seinen Kolleg:innen die UX der Cloud-Software Lexware Office. Praxisnah, direkt und nutzerzentriert hat er keine Geduld für Dogmen. In seinen Texten betont er: UX bedeutet Wirkung, nicht Selbstbespiegelung. Er kämpft für Klarheit, bricht Regeln, wenn sie hinderlich sind, und zeigt: Gute Produkte entstehen nicht durch Konsens, sondern durch mutige Entscheidungen.

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