In vielen Unternehmen – ob Startup oder Konzern – gilt Harmonie als oberstes Gebot. Konfliktfreie Kommunikation, „positive vibes“ und Konsensrunden werden als Erfolgsfaktor verkauft. Doch für UX ist diese Kultur oft Gift. Wer wirklich nutzerzentriert arbeiten will, muss bereit sein, Reibung auszuhalten und für bessere Lösungen zu streiten – konstruktiv, respektvoll und mit Wertschätzung für die Beteiligten.
Die Harmonie-Falle
- Startups: Vor allem in jungen Teams wird häufig propagiert, dass wahlweise alle „gute Freunde“ oder „wie eine große Familie“ sind. In einem solchen, vermeintlich positiven Klima wird Kritik als Angriff auf die Kultur verstanden. Das Ergebnis: Features werden unter Umständen durchgewunken, auch wenn sie Nutzer:innen überfordern oder keinen spürbaren Mehrwert bieten.
- Konzerne: In größeren Organisationen dominiert oft die Angst vor Eskalation. Wer in Meetings widerspricht, riskiert als schwierig zu gelten oder seine Karrierechancen zu gefährden. Führungskräfte vermeiden klare Konfrontationen, um politische Spannungen nicht sichtbar zu machen. Statt Klartext gibt es Floskeln wie „Das nehmen wir mal mit“, die kurzfristig Ruhe schaffen, aber Entscheidungen vertagen. So entsteht eine Kultur, in der Streit als Tabu gilt – und UX-Verbesserungen im diplomatischen Nebel verschwinden.
- Das Problem: Harmonie klingt zunächst nach einem gesunden Klima, doch in der Praxis verhindert sie oft die notwendige Schärfe. Wenn Kritik als Störung empfunden wird, bleiben zentrale Fragen ungeklärt: Ist dieses Feature wirklich nötig? Versteht ein neuer Nutzer den Flow? Passt die Lösung zur Realität der Anwendung? Statt mutiger Entscheidungen entstehen weichgespülte Kompromisse, die niemandem wehtun, aber auch niemandem helfen. So wird Harmonie zur Falle: Sie schützt kurzfristig das Teamgefühl, schwächt aber langfristig die Qualität der UX, weil echte Reibung und klare Positionen fehlen.
Streit als Werkzeug für bessere UX
Streit ist kein sinnloses Anschreien, sondern produktive Reibung. Gute UX entsteht, wenn unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen:
- Business vs. Nutzerbedürfnisse: In vielen Unternehmen prallen Umsatzlogik und Nutzerinteressen direkt aufeinander. Das Business will Conversion, Monetarisierung und schnelle Skalierung – die Nutzer:innen dagegen eine einfache, verständliche und hilfreiche Experience. Wenn diese beiden Perspektiven nicht offen diskutiert werden, setzt sich meist die kurzfristige Umsatzsicht durch. Das führt zu überladenen Interfaces, aggressiven Sales-Flows oder Features, die zwar Zahlen liefern, aber Vertrauen zerstören. Erst durch klare Konfrontation wird sichtbar, wo die Balance fehlt. Ein konstruktiver Streit zwingt beide Seiten, die Frage zu beantworten: Wie können wir Umsatz erzielen, ohne die Experience zu opfern?
- Technik vs. Usability: Entwickler:innen denken in Effizienz, Performance und sauberem Code. Designer:innen dagegen in Verständlichkeit, Klarheit und Nutzerfluss. Beide Ziele sind legitim – doch ohne Streit bleibt oft eine Seite dominant. Dann entstehen entweder technische Lösungen, die zwar stabil laufen, aber niemand versteht, oder hübsche Interfaces, die technisch kaum tragfähig sind. Der Konflikt ist notwendig, weil er beide Perspektiven zwingt, sich gegenseitig ernst zu nehmen. Erst wenn Entwickler:innen und Designer:innen ihre Argumente hart, aber respektvoll austauschen, entsteht eine Lösung, die sowohl robust als auch nutzerfreundlich ist.
- Vision vs. Realität: Produktmanager:innen lieben große Ideen und ambitionierte Roadmaps. Sie träumen von Features, die Märkte verändern, und von Experiences, die Nutzer:innen begeistern. Doch die Realität sieht oft anders aus: Nutzer:innen stolpern über Kleinigkeiten, brechen an banalen Stellen ab oder nutzen das Produkt ganz anders als gedacht. Ohne Streit bleibt die Vision ungebremst – und die Realität wird ignoriert. Ein konstruktiver Konflikt zwingt dazu, die Träume mit den tatsächlichen Nutzungsdaten abzugleichen. So entsteht eine gesunde Spannung: Die Vision bleibt als Leitstern erhalten, aber sie wird durch die Realität geerdet und dadurch überhaupt erst umsetzbar.
Wertschätzung als A und O
Damit Streit nicht destruktiv wird, braucht er klare Leitplanken:
- Respektvolle Härte: Man darf hart in der Sache sein, aber nie verletzend gegenüber Menschen.
- Wertschätzung für die Beteiligten: Auch im Konflikt bleibt die Anerkennung der Kompetenz und Motivation der anderen bestehen.
- Fokus auf Nutzer:innen: Jede Diskussion muss sich daran messen lassen, ob sie die Experience verbessert.
- Argumente statt Geschmacksurteile: „Ich finde das schöner“ ist schwach. „Unsere Tests zeigen, dass Nutzer hier abbrechen“ ist stark.
Praxisbeispiele
- Das „Weiterlesen“-Drama: Ein Button, der im Editor perfekt aussieht, aber im Frontend verrutscht. Ohne konstruktiven Streit bleibt er „gut genug“. Mit Streit wird er pixelgenau korrigiert – und die Nutzer:innen merken den Unterschied.
- Illustrationen im Blog: Ein Bild, das metaphorisch nicht passt, wird von manchen als „schön“ verteidigt. Erst durch wertschätzenden Streit über die Bedeutung entsteht eine Illustration, die wirklich trägt.
- Feature-Debatten: Ein „praktisches“ Zusatzfeature, das die Nutzer:innen überfordert. Nur durch konstruktiven Streit wird es gestrichen – und die Experience bleibt klar.
Fazit
Die Vorstellung, dass Harmonie automatisch zu besseren Produkten führt, ist ein gefährlicher Irrtum. Unternehmen, die Konflikte vermeiden, produzieren oft mittelmäßige UX. Wer dagegen mutig streitet, zeigt Haltung und sorgt dafür, dass Nutzer:innen wirklich im Zentrum stehen. Gute UX entsteht nicht im Kuschelmodus, sondern dort, wo Menschen bereit sind, Konflikte auszutragen und gemeinsam bessere Lösungen zu erkämpfen. Aber bitte immer konstruktiv, respektvoll und mit Wertschätzung.


